Wie mich der Triathlon an mich selbst glauben ließ


Ich bin Jasmin, 43 Jahre alt und seit knapp 6 Jahren Triathletin. Es hätte wahrscheinlich nie jemand erwartet, dass ich mal eine sein würde. Ich lange Zeit auch nicht. Warum?

Das lag nicht generell an mir. Ich persönlich bin ein Mensch, der immer neugierig ist. Wenn ich mich für etwas interessiere, dann probiere ich es auch aus. Beim Ausprobieren merke ich dann selbst, ob es mir liegt oder nicht. Ich persönlich glaube nicht, dass wir etwas generell nicht können oder nicht erreichen können. Wir selbst setzen uns unsere Grenzen. Doch manchmal übernehmen wir die Grenzen von anderen und erkennen unsere eigenen Möglichkeiten nicht. Das habe ich auch lange Zeit getan.

„Wir selbst setzen uns unsere Grenzen.“

Ich litt schon früh an mehreren chronischen Krankheiten, wusste aber nicht von allen Erkrankungen. Doch eine meiner Erkrankungen war seit ihrem Ausbruch während meiner Pubertät für alle sichtbar. Ich bekam Lipödeme. Das ist eine angeborene Fettverteilungsstörung, die dafür sorgt, dass sich Fettzellen in den Armen und Beinen explosionsartig vermehren. Die „kranken“ Fettzellen produzieren doppelt so viel Lymphflüssigkeit und es bilden sich Ödeme – Wassereinlagerungen. Die Arme und Beine schmerzen ständig, sind berührungsempfindlich, es entstehen schnell blaue Flecken und die Gliedmaßen fühlen sich immer extrem schwer an.

Da die Krankheit bei mir in der Pubertät ausbrach, war es für mich erstmal „normal“ diese Empfindungen zu haben. Doch dass meine Arme und Beine plötzlich dick wurden, habe nicht nur ich wahrgenommen. Ich wurde von diesem Zeitpunkt an gemobbt und jeder wusste plötzlich ganz genau, warum ich dick war. Natürlich wäre ich einfach faul und nicht leistungsbereit. Und das bekam ich auch ständig gesagt.

„Du warst sogar technisch besser. Aber du bist dick, daher sieht das bei dir nicht so schön aus.“

Zu diesem Zeitpunkt machte ich gerne Sport. Ich tanzte schon mehrere Jahre mit Freude und ich ruderte im Schulkader. Jedoch durfte ich nie das Kader zu einer Regatta begleiten. Irgendwann sprach ich den Trainer an und fragte nach dem Grund. Er gab mir keine Antwort. Er schaute mich nur von oben bis unten an und ging. Später beim Gymnastik-Tanz im Sportunterricht sprach eine Lehrerin es dann schließlich aus. Ich hatte mit einer Freundin einen Tanz einstudiert und bei der Notenvergabe wurde ich eine ganze Note schlechter bewertet. Als ich die Lehrerin fragte warum, antwortete sie mir: „Du warst nicht schlechter, du warst sogar technisch besser. Aber du bist dick, daher sieht das bei dir nicht so schön aus.“ Das nagte sehr an mir.

„Ich sah im Spiegel plötzlich das, was die anderen von mir behaupteten. Eine dicke Frau, die nichts kann.“

In den Zwanzigern wurde meine Krankheit dann diagnostiziert. Jedoch erklärte mir niemand, was das genau bedeutete. Ich bekam nur Kompressionsstrümpfe und Lymphdrainage. Aber das brachte mir damals rein gar nichts. Ich muss nicht erwähnen, dass ich ständig Diät hielt. Irgendwie musste ich diese dicken Arme und Beine doch loswerden. Niemand hatte mir gesagt, dass die Lipödeme nicht mit einer Diät wegzubekommen sind. Aus den vielen Diäten wurde eine Essstörung und so verbrachte ich einige Jahre meines Lebens damit, diese wieder loszuwerden. Und ich hörte auf Sport zu machen. Ich hasste meinen Körper und irgendwann war mir auch diese ätzende Krankheit egal. Ich sah im Spiegel plötzlich das, was die anderen von mir behaupteten. Eine dicke Frau, die nichts kann. Ich nahm zu und mein Körper wurde immer kränker.

„Die dicke Frau und Triathlon? Das schien mir damals
undenkbar! Bis zu diesem Moment an der Alster, als beim Triathlon vor mir ein Athlet ohne Arme aus dem Wasserstieg.“

Mitte dreißig sagte irgendwann ein Arzt zu mir: „Wenn Sie nicht bald etwas ändern, dann sterben Sie noch bevor sie 40 Jahre alt sind!“ Das war mein Weckruf! Ich machte eine Ernährungsumstellung und fing mit Nordic Walking an. Tatsächlich purzelten die Pfunde und ich fing an zu Laufen. Ich schloss mich einer Gruppe an und wir fuhren gemeinsam zum Triathlon nach Hamburg. Ich eher als Beobachter, denn mir war das ziemlich suspekt. Die dicke Frau und Triathlon? Das schien mir damals undenkbar! Bis zu diesem Moment an der Alster, als beim Triathlon vor mir ein Athlet ohne Arme aus dem Wasser stieg. Ich dachte, ich sehe nicht richtig! Der war 1,5 km geschwommen. Ohne Arme. Und ich stand hier am Rand und traute mich nicht.

Und wieder nagte etwas an mir. Doch diesmal war es etwas Gutes! Ich kaufte mir ein Crossrad und fing an zu trainieren. Nächstes Jahr wollte ich in Hamburg durch dieses Tor laufen! Und das tat ich tatsächlich. Ich lief nach der Sprintdistanz durch das blaue Tor auf dem Rathausmarkt und konnte es nicht fassen. Ich bekam eine Medaille umgehängt und in meinem Kopf hämmerte es immer wieder: „Da oben im Tor stand mein Name. Ich bin da durchgelaufen!“ Ich brauchte eine Woche, um zu realisieren, was da passiert war. Ich hatte das Ganze natürlich in der längsten Zeit gemacht, aber das war mir egal. Ich hatte jede Sekunde genossen und konnte es irgendwie immer noch nicht fassen.

Ich trainierte weiter, obwohl das Training und die Wettkämpfe ganz sicher nicht einfach waren. Mein Körper war durch meine Krankheiten extrem gefordert und ich musste immer wieder gegen die heftigen Schmerzen und die Schwere, welche die Lipödeme mir bereiteten, ankämpfen. Außerdem suchte ich einen Trainer. Das gestaltete sich schwieriger, als gedacht. Denn wie schon damals während meiner Pubertät, sahen auch jetzt die Menschen nur die dicke, faule Frau in mir. Und das sagten mir die Trainer auch, wenn ich sie anschrieb. Zum Glück gab es einen, der das nicht tat. Der sagte nur: „Ich finde deine Ziele realistisch, ich trainiere dich.“ Und dafür bin ich ihm bis heute mehr als dankbar.

„Das hat mir gezeigt, dass in mir häufig viel mehr steckt, als ich erwarte.“

Ich habe inzwischen um die 40 Triathlons absolviert und an unzähligen Laufveranstaltungen und Radrennen teilgenommen. Nächste Woche werde ich zu meiner 3. Mitteldistanz starten. Ich hätte mir nie träumen lassen, jemals so weit zu kommen. Aber das hat mir gezeigt, dass in mir häufig viel mehr steckt, als ich erwarte. Klar, ich bin meistens die Letzte, die durch das Ziel läuft. Dafür kenne ich eine Menge Besenradfahrer und die begrüßen mich schon mit Vornamen. Ich bin jedes Mal unfassbar glücklich, wenn ich durch das Tor laufe und wieder einen Wettkampf abschließe. Weil ich dann spüre: ich kann das! Und niemand kann mir etwas Anderes weismachen.

Heute träume ich davon, dass ich irgendwann mal strahlend durch das Tor des Ironman Hamburg laufen werde und die Party des Letzten meine sein wird. Vielleicht wird es ein Traum bleiben. Meine Krankheiten setzen dabei die Grenze. Aber das wird mir das Träumen nicht nehmen. Genauso wenig, wie den Spaß, den ich an meinem Sport habe!

Teilen